F. Flückiger: Une histoire de la dispute religieuse

Cover
Titel
Dire le vrai. Une histoire de la dispute religieuse au début du XVIe siècle. Ancienne Confédération helvétique, 1523-1536


Autor(en)
Flückiger, Fabrice
Erschienen
Neuchâtel 2018: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
506 S.
von
Pierrick Hildebrand

Es handelt sich hier um die Veröffentlichung in Buchform einer 2016 an der Universität Neuchâtel angenommenen Dissertation zu den religiösen Disputationen in der Frühen Neuzeit. Fabrice Flückiger bietet «une histoire sociale de la vérité religieuse produite dans les disputes» (S. 34). Dieses sozialgeschichtliche Projekt beruht auf der Annahme, dass die religiöse Disputation weniger als epistemischer Raum der Wahrheitsfindung, sondern vielmehr als performatives Mittel zur Wahrheitsproduktion zu verstehen sei. Nach einem Vorwort des Doktorvaters Olivier Christin grenzt Flückiger in der Einleitung sein Forschungsfeld ein und gibt Rechenschaft über Methode und Quellen. Er legt den Fokus auf die Hauptdisputationen, die zu Beginn der Reformation auf dem Gebiet der Alten Eidgenossenschaft stattgefunden haben. Diese werden in der wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Praxis ihrer Entstehung und Durchführung kontextualisiert. Dazu werden vor allem offizielle Veröffentlichungen und institutionelle Quellen benutzt.

Die Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschungsliteratur im ersten Kapitel mündet in folgende Definition der Disputation: «Il s’agit d’une réunion de l’assemblée chrétienne incarnant l’Église invisible du Christ, autorisée à décider de la vérité grâce à l’écoute de la Parole de Dieu révélée dans les seules Écritures, et transformant la décision religieuse en affaire de la cité sous l’égide du magistrat, lui-même liée par la Parole divine garantissant la validité des décisions prises, qui auront valeur de loi pour toute la cité.» (S. 58). Von Zürich (1523) bis Bern (1528) über Baden (1526) werden dann die Genese und der Verlauf dieser Disputationen beschrieben. Die zwei nächsten Kapitel behandeln die Rolle der Obrigkeit. Flückiger zeigt auf, wie sich die Gemeinde als leibliche Einheit, ja als res publica christiana verstand. Sie beanspruchte eine Kontrolle über den örtlichen Klerus, damit dieser seiner seelsorgerlichen Pflicht nachkam. Die Kritik an der kirchlichen Einmischung in weltlichen Dingen insbesondere in der Gerichtsbarkeit der «cité» nahm im Spätmittelalter zu. Unter anderem Ulrich Zwingli hat diese obrigkeitliche Aufsicht für eine nun reformiert deklinierte Einheit der Gemeinde durch die Disputation gefördert. Mittels der Disputation inszenierte sich die Obrigkeit als oberste Gerichtsinstanz über die weltlichen wie auch über die geistlichen Angelegenheiten. Das vierte Kapitel fragt nach dem Raum, in dem die Disputationen stattgefunden haben. Untersucht werden die Wahl der gastgebenden «cité» sowie des Gebäudes. Auch die Einrichtung des ausgewählten Ortes und die Rolle der Räumlichkeit im Gesprächsdiskurs werden betrachtet. Die Raumthematik wird in den Quellen aber kaum diskutiert. Die Lücken in den zeitgenössischen Quellen versucht Flückiger mit Darstellungen aus dem 17. Jahrhundert zu füllen.

Das fünfte Kapitel beleuchtet das professionelle Profil der Disputationsprotagonisten. Anhand von Zwinglis Werdegang typisiert Flückiger ihre soziale und intellektuelle Verfassung. Die Reformatoren verstanden sich als Kleriker, die ihre Pflicht vor Gott gegenüber der Amtskirche und der Gemeinde nachkamen. Mit ihrer akademischen und humanistischen Bildung waren sie rhetorisch wie auch philologisch bestens ausgerüstet, ihre Ansichten beim Disputieren durchzusetzen. In der Disputation legimitierten sie sich selbst als «clercs nouveaux». Die Rolle des Präsidenten und des Notars wird auch besprochen. Zuletzt kommen die Kleriker zur Sprache, die aus demselben Pflichtbewusstsein gegen die Reformatoren antraten. Im sechsten Kapitel fragt der Autor, wie die Wahrheit definiert und durchgesetzt wurde. Das Ziel der Disputation bestand nicht darin, einen Konsens zu finden, sondern die eine christliche Wahrheit wiederherzustellen. Die Disputationen sollen dabei erstmals theologische Klarheit im reformierten Lager durch Thesenformulierung gebracht haben. Das römische Lager stand jetzt unter Rechtfertigungsdruck. Flückiger zeigt weiter auf, wie die Disputation von der akademischen disputatio abwich und sich im Geiste des humanistischen Dialogs neu erfinden musste. Dabei spielten in den Disputationen das sola scriptura und die Frage um die Deutungshoheit der Heiligen Schriften eine entscheidende Rolle. Zuletzt wird auf den Zusammenhang zwischen der mündlich gehaltenen Disputation und dem polemischen Nachspiel mittels Schriften hingewiesen. Das letzte Kapitel setzt sich mit dem Religionsentscheid im Anschluss an die Disputation auseinander. Der Autor greift erstens ihre pneumatologische Begründung in der Anrufung des Heiligen Geistes auf. Das Selbstverständnis der Disputationsversammlung als «christliche Versammlung» setzt Flückiger in Kontrast zu der konziliaren und der synodalen Praxis, die von den Reformatoren abgelehnt wurden. Zuletzt stellt Flückiger die These auf, es habe eine «voie suisse» der religiösen Disputation dank den politischen Strukturen der Alten Eidgenossenschaft gegeben.

Der Autor kommt wenig überraschend, ja fast tautologisch, auf der letzten Seite der Konklusion zum Schluss: «La vérité religieuse était au fond un produit social» (S. 443). Nicht zuletzt grenzt sich diese sozialgeschichtliche Studie von einer konfessionellen Lesart der Disputationen ab. Der Autor leistet ein unverzichtbares Korrektiv zur bisherigen Forschung, die den Fokus zu einseitig auf das theologische Profil einzelner Disputanten gelegt habe, die dafür in Flückigers Studie in den Hintergrund rücken. Wird Flückigers Studie jedoch nicht als Ergänzung einer theologiegeschichtlichen Perspektive verstanden, setzt sie sich selbst der Gefahr einer einseitigen Darstellung aus, bei der die theologische Denkleistung einzelner Protagonisten unzureichend zur Geltung kommt.

Zitierweise:
Hildebrand, Pierrick: Rezension zu: Flückiger, Fabrice: Dire le vrai. Une histoire de la dispute religieuse au début du XVIe siècle. Ancienne Confédération helvétique, 1523–1536, Neuchâtel 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 147-148. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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